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Am Morgen wacht unsere 8-jährige Tochter auf. Und ruft nach mir: "Mama, mir ist soooo heiß, ich schwitze, ich bin klitschnass..."

Sie reißt sich die durchweichten Kleider einfach so vom Leib. 8-jährige Mädchen tun das nicht mehr ohne Scham...

Ich bin irritiert.

Ich schaue sie an. Nackig steht sie vor mir - übersät mit blauen Flecken. Ich schaue genau hin. Sie hat auch Hauteinblutungen.
Mir graut es.

Ich bin Frauenärztin. Differentialdiagnosen rasen mir durch den Kopf. Ich zweifele an mir, verurteile mich selbst, wieso habe ich das nicht früher bemerkt?

Am Wochenende davor hatte sie starke Rückenschmerzen, die ich mir nicht erklären konnte. Sonst erschien sie mir so leistungsfähig wie immer.

Ich krame mein Pädiatriebuch aus dem Regal. Ich schaue nach. Schlage eine Seite auf. Entsetzen! Lasse sie geöffnet liegen.

Ich treibe die kleinen Schwestern (6 und 3) an. Bringe sie in Schule und Kindergarten und bin beim Kinderarzt, bevor er öffnet.


Stürme herein. Komme sofort dran.
Blutentnahme.

Meine Tochter wehrt sich mit Händen und Füßen - wenn sie wüsste, wie egal ihr das in 2-3 Tagen sein wird...
Der Kinderarzt schaut besorgt.

Hofft und bangt mit mir. Das Ergebnis sagt: 30.000 Blutplättchen. 16.000 weiße Blutkörperchen. 12,5 Hb. Das erklärt die blauen Flecken.

Ich hoffe - Vielleicht nur eine vergleichsweise harmlose Störung der Blutplättchen.

Der Kinderarzt hat schon mit dem Oberarzt in der Klinik telefoniert. Uns schon angekündigt.

Zufällig meine Klinik....

Ich rufe meinen Mann an, er ist verwirrt, ich sage ihm den Stand der Dinge, versuche ihn zu beruhigen. Es gelingt mir. Er arbeitet, hat Termine. Ich sage ihm, er soll erstmal bleiben wo er ist, er hat ja noch keine Ahnung.

Ich kenne den freundlichen Oberarzt kaum, nur vom Sehen. Bisher hatten wir kaum Berührungspunkte.

Er empfängt uns.

Untersuchung, ernste Gesichter, erneute Blutentnahme - mein Kind ist irritiert und geht durch die Hölle. Sie wütet. Weiß nicht, wie ihr geschieht.

Nach einer Stunde die böse Gewissheit. Leukämie! Ich breche fast zusammen. Rufe meinen Mann an - er ist nicht erreichbar. Oh Gott...

Der Alptraum aller Eltern. Unser Kind hat Krebs! Was wird aus ihr? Was wird aus uns? Was wird aus dem Geschwistern? Entsetzlich!

Ich laufe um die Ecke und renne in einen meiner Kollegen der Neonatologie, ich bin aufgelöst. Teile ihm schluchzend die Diagnose meiner Tochter mit.

Er ist bestürzt, ringt nach Worten, findet aber eine für mich hilfreiche und hoffnungsvolle Formulierung.

"Die Leukämie bei Kindern wurde mittlerweile von der WHO als heilbare Erkrankung eingestuft."

So ein Satz kann wahrscheinlich nur einem Mediziner hilfreich sein. Ich war so dankbar für diesen Kommentar.

"Du bist schon ein großes Mädchen, du kannst und musst verstehen, was los ist", so beginnt der Arzt das Gespräch mit unserer Tochter. "Du hast eine echt beschissene Krankheit, diese Krankheit müssen wir behandeln. Sonst stirbst du daran. Die Behandlung dauert lange und ist sehr anstrengend. Aber - du wirst gesund werden."

Harte, unmissverständliche Worte. Ich bin ihm dankbar für die Unverblümtheit.


Ich sehe mein Kind an, sie wirkt tatkräftig, entschlossen. Keine Tränen. Ich nehme sie in den Arm. Weiß aUch nicht wohin mit meinen Gefühlen. Für ein paar Tage hasst sie den Arzt...

Das vergeht.

Ich lege ihm meine Tochter buchstäblich in die Arme. Er macht sie wieder gesund!

Er sagt, wir müssen uns beeilen, wir haben heute noch viel vor.

Wir gehen zur Anmeldung. Dann auf die Station Regenbogen. Unser zweites Zuhause für das kommende 3/4 Jahr.

Ich kenne solche Kinderonkologischen Stationen nur aus dem Studium oder von Konsilen.

An jeder Tür stehen Namen in Holzlettern.


Ihr Zimmer ist schon vorbereitet. Der Name steht dran. Ich kollabiere fast.

Seit ich Kinder habe, war das immer meine Horrorvorstellung auf so einer Station zu landen, und nun wurde genau das wahr. Konnte mir nie vorstellen, wie die Eltern das aushalten können.

Ich halte mich aufrecht, meiner Tochter zuliebe. Gebe die Starke. Will sie nicht mit meiner Angst noch mehr verunsichern.

Sie braucht einen venösen Zugang. Wieder Gebrüll. Ich halte sie fest, rede ihr gut zu. Dann Erfolg - Entspannung.

Endlich erreiche ich meinen Mann. Er ist verstört. Lässt alles fallen. Ich mahne ihn zur Ruhe.

Die Knochenmarkpunktion steht aus, dafür braucht sie eine Narkose.

Der Vater ihrer Freundin ist bei uns Anästhesieoberarzt. Wir sind gut befreundet. Ich frage nach ihm. Er ist nicht da, hat frei.
Er wurde schon informiert. Er kommt von zu Hause.

Auf der Überwachungsstation kommt er zu uns.

Meine Tochter sieht ihn - lächelt, sagt: "Danke, dass du für mich da bist", sie entspannt sich, vertraut ihm. Ich bin unendlich gerührt.

Dann schläft sie ein. Die Punktion beginnt. Ich darf bleiben. Möchte wissen, was geschieht.

Ich abstrahiere. Sehe in dem Moment meine Tochter nicht als meine Tochter sondern als Patient. Das macht es einfacher. Der Arzt erklärt mir, was er tut und wieso. Ich bin so dankbar.

Noch Lumbalpunktion und die erste Gabe Chemotherapie ins Nervenwasser.

"Wir reden später darüber. Wenn ich es jetzt mache sparen wir uns morgen eine weitere Narkose."

Ehrlich gesagt ist mir alles egal.

Alle wirken sehr routiniert und entschlossen. Keine Sekunde zweifele ich an der Kompetenz und an dem Vorgehen.

Kurz darauf kommt mein Mann dazu. Er weint, als er uns sieht. Ich versuche ihn zu trösten. Lächerlich.

Sage ihm, dass alles gut werden wird. Wir haben gute Chancen, obwohl wir eigentlich noch nichts genaues wissen. Mantramäßig wiederhole ich es. Für meine Tochter! Meinen Mann! Für mich!

Die Prognose ist vor allem abhängig vom Typ der Leukämie.

Wir hoffen auf ein günstiges Ergebnis - Glück im Unglück, sozusagen.

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